Die Schweiz behindert

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Benachteiligungen am Arbeitsplatz, kein Besuch der Regelschule oder kein Zugang zu Online-Dienstleistungen – viele Menschen mit Behinderungen können kein selbstbestimmtes Leben führen. Dies zeigt der Schattenbericht zur UNO-Behindertenrechtskonvention (UNO-BRK) auf, den Inclusion Handicap (IH) und seine 25 Mitgliederorganisationen am 29. August in Genf dem zuständigen UNO-Komitee übergaben. insieme Schweiz hat als Mitglied von IH am Schattenbericht mitgearbeitet und setzt sich aktiv für die Umsetzung der UNO-BRK in der Schweiz ein.

«Es gibt noch viel zu tun, bis die Konvention umgesetzt ist», sagte Pascale Bruderer, Präsidentin von Inclusion Handicap und Ständerätin (SP/AG), an der Medienkonferenz im Anschluss an die Übergabe des Schattenberichts. Dieser wurde vom Dachverband Inclusion Handicap und seinen 25 Mitgliederorganisationen, darunter insieme Schweiz, erarbeitet. Dafür wurden weitere Direktbetroffene sowie Expertinnen und Experten befragt. Selbstbestimmtes Leben für alle Menschen mit Behinderungen – dies verlangt die UNO-BRK von ihren Vertragsstaaten. Die Schweiz ratifizierte die Konvention 2014 und hat seither noch nicht viel für ihre Umsetzung gemacht. Der Schattenbericht zeigt aus Sicht der Menschen mit Behinderungen, wo überall der Hebel anzusetzen ist. «In sämtlichen Lebensbereichen besteht Handlungsbedarf», stellt Bruderer fest. «Dieses Dokument legt die Situation für Menschen mit Behinderungen umfassend dar. Wir präsentieren dazu zahlreiche politische Forderungen.» Auch Alt-Bundesrätin Micheline Calmy-Rey wies an der Medienkonferenz auf die grosse Bedeutung des Schattenberichtes hin.

Viele Hindernisse aber kein Plan für konkrete Umsetzung

Die Palette der Hindernisse für Menschen mit Behinderungen ist breit. Sie reicht von baulichen Barrieren, Diskriminierungen am Arbeitsplatz, fehlendem Nachteilsausgleich bei der Ausbildung bis zur menschenrechtlich höchstproblematischen Praxis der Zwangseinweisungen in psychiatrische Einrichtungen. Für IH-Vizepräsidentin Verena Kuonen bleibt der Zugang zur Bildung eines der zentralen Probleme: «Die Eltern von Kindern mit geistiger Behinderung haben oft grosse Mühe, ihre Kinder in Regelklassen unterrichten zu lassen». Auch insieme Schweiz bedauert, dass Kinder mit geistiger Behinderung oft in Sonderschulen separiert werden, obwohl sie mit genügend Unterstützung die Regelschule besuchen könnten. Der Mangel an inklusiven Lösungen setzt sich bei Jugendlichen fort, die aufgrund ihrer geistiger Behinderung oft von der Berufsbildung ausgeschlossen bleiben.

Alt-Bundesrätin Micheline Calmy-Rey betonte, dass eine Gesamtstrategie zur Umsetzung der UNO-BRK in der Schweiz fehle. Eine solche Strategie müssen Bund und Kantone gemeinsam mit den Behindertenorganisationen erarbeiten. Auch diesbezüglich ist der Staatenbericht des Bundes vom Sommer 2016 schönfärberisch und unvollständig. «Der politische Wille ist nicht vorhanden», hielt Christian Lohr, Vizepräsident von Pro Infirmis und Nationalrat (CVP/TG) an der Medienkonferenz fest. «Ausserdem muss die gesellschaftliche Teilhabe der Menschen mit Behinderungen unbedingt sichergestellt werden», so der Urheber des Postulats «Kohärente Behindertenpolitik».

Exemplarisch seien hier drei Themen genannt: Menschen mit Behinderungen werden auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt. Dazu kündigte Pascale Bruderer politische Aktivitäten auf Bundesebene an: «Ich werde im Parlament einen entsprechenden Vorstoss einreichen», erklärte sie. «Menschen mit Behinderungen müssen besser vor Diskriminierungen geschützt werden». Ein anderer Schwerpunkt ist die Bildung. «Die Probleme fangen bereits bei der Schulbildung an; viele Kinder werden in Sonderschulen gesteckt», hielt Verena Kuonen fest. Drittens haben Menschen mit Behinderungen beim Zugang zu Dienstleistungen (z.B. bei Dokumenten und Webseiten) oder Gebäuden häufig mit Barrieren zu kämpfen. «Der Schattenbericht benennt die Hindernisse systematisch», so Pascale Bruderer. Und weiter: «Jetzt ist Handeln angesagt – auf allen Ebenen! Wir stehen alle in der Pflicht.»