Ein starkes Behindertengleichstellungsgesetz sieht anders aus

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Mit berechtigten Hoffnungen haben die Behindertenverbände die Teilrevision des Behindertengleichstellungsgesetzes erwartet. Nach einer ersten Durchsicht des heute veröffentlichten Entwurfs zeigt sich aber, dass es der Bundesrat verpasst, die drängenden Probleme bei der Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen konsequent anzugehen. Aus Sicht von insieme Schweiz muss dringend nachgebessert werden.

Menschen mit Behinderungen sehen sich täglich mit zahlreichen Barrieren und Benachteiligungen konfrontiert: Sie erfahren auf dem Arbeitsmarkt deutlich häufiger Gewalt und Diskriminierungen und sind nach wie vor einem höheren Armutsrisiko ausgesetzt als der Rest der Bevölkerung. Auch zeigt die hohe Anzahl an nicht zugänglichen Bahnhöfen und Haltestellen des öffentlichen Verkehrs, dass ihre Interessen nicht die nötige Priorität erhalten. So erfahren Menschen mit Behinderungen in nahezu allen Lebensbereichen Diskriminierung. Die im März 2023 angekündigte Teilrevision des Behindertengleichstellungsgesetzes (BehiG) gab den Behindertenverbänden die berechtigte Hoffnung, dass der langjährige Ruf nach einer nachhaltigen Stärkung der Behindertenrechte endlich gehört wurde. Die heute präsentierten Vorschläge greifen aber deutlich zu kurz.

Griffige Massnahmen in mehreren Teilbereichen erforderlich

Die Empfehlungen des UNO-BRK-Ausschusses aus dem Jahr 2022 zeigten der Schweiz die bestehenden Probleme unmissverständlich auf. Mit seinem Gesetzesentwurf anerkennt der Bundesrat zumindest punktuell den Handlungsbedarf: «Nach einer ersten Durchsicht stellen wir jedoch fest, dass der Entwurf nur einen Bruchteil der notwendigen Anpassungen abdeckt», betont Caroline Hess-Klein, Abteilungsleiterin Gleichstellung bei Inclusion Handicap.

Durch die Unschärfe einer Glasscheibe kann man eine sitzende Person erahnen.

Menschen mit Behinderungen sollten als Expertinnen und Experten in die Ausarbeitung des BehiG einbezogen werden. © Antoine Tardy

 

Tatsächliche Gleichstellung erfordert beispielsweise die Gewährleistung der freien Wahl der Wohnform und die Bereitstellung von Hilfestellungen und Assistenz, damit betroffene Menschen möglichst selbstbestimmt leben können. Zudem ist es unverständlich, dass im Entwurf keine neuen Regulierungsschritte für die verfehlte Umsetzung der Barrierefreiheit im öffentlichen Verkehr vorgesehen sind. Will der Bundesrat die Rechte von Menschen mit Behinderungen wirklich stärken, sind nun griffige Massnahmen erforderlich.

Schenkt Bundesrat Stimmen der Betroffenen Gehör?

Im Gegensatz zu den Kantonen bei der Erarbeitung ihrer Behindertengleichstellungsgesetze hat der Bund darauf verzichtet, Menschen mit Behinderungen und ihre Verbände miteinzubeziehen. Dies wäre jedoch notwendig, um wirkungsvolle gesetzliche Massnahmen gegen die Diskriminierungen zu ergreifen, die Menschen mit Behinderungen tagtäglich erfahren.

Inklusions-Initiative gibt Rückendeckung

Die aktuelle Revisionsrunde zeigt es deutlich auf: Es braucht eine klare Verpflichtung der Gesetzgeber von Bund und Kantonen. «Der Vernehmlassungsentwurf ist ein Affront gegenüber Menschen mit einer Behinderung. Zudem steht er quer zu unserer Verfassung, die schreibt, dass sich die Stärke des Volkes am Wohl der Schwachen misst. Umso wichtiger ist nun die im April 2023 lancierte Inklusions-Initiative, damit die selbstbestimmte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen mit der nötigen Kraft vorangetrieben werden kann», so Manuela Weichelt, Vorstandsmitglied von insieme Schweiz. Die Inklusions-Initiative will die tatsächliche Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen in allen Lebensbereichen und über alle Gesetzesebenen hinweg sicherstellen.