Für alle Schweizerinnen und Schweizer ist ein Wohnortswechsel innerhalb der Schweiz jederzeit möglich und vor allem selbstverständlich. Wirklich für alle? Nein, ein neues Bundesgerichtsurteil verwehrt einem Mann mit geistiger Behinderung den Wohnortswechsel in einen anderen Kanton aufgrund höherer Kosten.
Ein Mann mit kognitiven und psychischen Beeinträchtigungen lebt seit 2001 in einer Institution im Jura. 2014 übernimmt seine Schwester die Beistandschaft von ihm. Da die Schwester im Kanton Genf wohnt und Vollzeit erwerbstätig ist, sind ihre Besuche und Unterstützung auf das Wochenende und Ferien beschränkt. Deshalb stellen die Geschwister Antrag beim „Service de l’action sociale du canton du Jura“ (Sozialamt Kanton Jura) auf einen Wohnortswechsel in eine Genfer Institution.
Kantonal höchst unterschiedliche Heimkosten
Die Wohnkosten in einer Genfer Institution sind fast doppelt so hoch wie jene im Kanton Jura. Gemäss der „Interkantonalen Vereinbarung für soziale Einrichtungen (IVSE)” müsste der Kanton Jura die Wohnkosten für den Mann in einem anderen Kanton übernehmen, falls er selber keinen adäquaten Wohnplatz anbieten kann. Der Kanton Jura stellt sich aber auf den Standpunkt, dass der Platz in der jurassischen Institution angemessen sei. In Folge lehnt er es ab, die Kosten für eine Unterbringung im Kanton Genf zu übernehmen.
Kosten höher gewichtet als Grundrecht auf Familienleben
Das Bundesgericht nahm eine Abwägung verschiedener Grundrechte vor. Im konkreten Fall sieht es den starken Eingriff in die Niederlassungsfreiheit als gerechtfertigt an. Die Schwester ist zwar für den Mann das einzige Familienmitglied in der Schweiz, welches ihn besucht, unterstützt und in medizinischen Fragen berät. Dennoch gewichtet das Bundesgericht die höheren Kosten, welche der Kanton Jura übernehmen müsste, stärker als die Grundrechte des Mannes auf Familienleben und freie Wohnortwahl.
insieme bestürzt über Urteil
Gerade für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen sind soziale Kontakte und familiäre Unterstützung von immenser Bedeutung. insieme bedauert deshalb diesen Bundesgerichtsentscheid sehr. Das Urteil bedeutet: Die Einsparung von Kosten ist wichtiger als die Grundrechte von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen. Dies ist nicht nur ein Eingriff in die Niederlassungsfreiheit, sondern auch ein Verstoss gegen die UNO-BRK (Art. 19, unabhängige Lebensführung).
Kommentar von Inclusion Handicap
Beitrag in der Sendung “10vor10”