Bern wechselt von der Objekt- zur Subjektfinanzierung

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Seit Jahren verhandelt der Kanton Bern über ein neues Gesetz über die Leistungen für Menschen mit Behinderungen (BLG). Der Paradigmenwechsel von der Objekt- zur Subjektfinanzierung soll es Menschen mit Beeinträchtigung ermöglichen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Ein guter Ansatz mit Optimierungspotenzial.

Der Grosse Rat (Kantonsparlament) hat am 7. Dezember 2022 über das neue Gesetz über die Leistungen für Menschen mit Behinderungen (BLG) debattiert. Über den Grundsatz herrschte Einigkeit: Mit dem neuen Gesetz sollen die Bedingungen dafür geschaffen werden, dass Menschen mit Beeinträchtigung mehr Autonomie, Selbstbestimmung und dadurch grössere Teilhabe am gesellschaftlichen Leben erfahren können. Zahlreiche Menschen mit Beeinträchtigung haben die Debatte im Grossen Rat mitverfolgt, sei es im Ratssaal selbst, auf der Tribüne oder in der Halle, wo die Debatte auf einem Grossbildschirm übertragen wurde.

Eine Frau im Rollstuhl spricht im Berner Grossratssaal vor den Mitgliedern des Kantonsparlaments.

Grossrätin Simone Leuenberger hat sich mit zahlreichen Voten für das neue Gesetz stark gemacht. © insieme Schweiz

Künftig soll jede Person mit einer Beeinträchtigung eine Gutsprache für eine gewisse Anzahl Leistungen erhalten, über die sie frei verfügen kann. Sie kann also selbst entscheiden, ob sie das Geld für eine Unterstützung in einer Institution oder in den eigenen vier Wänden verwenden möchte. Damit vollzieht der Kanton einen Paradigmenwechsel von einer Objekt- zu einer Subjektfinanzierung. Die Gutsprache basiert auf einer individuellen Bedarfsermittlung, welche die Bedürfnisse jeder Person im Alltag berücksichtigt.

Unterstützungsleistungen von Angehörigen

insieme Schweiz begrüsst die Grundausrichtung des Gesetzes, sieht aber noch Optimierungspotenzial. Das betrifft insbesondere die Entschädigung der Angehörigen. Zwar erlaubt das kantonale Gesetz allen Angehörigen, Unterstützung zu leisten, aber es gesteht ihnen dafür keinen Lohn zu, sondern bloss eine Entschädigung. Der Assistenzbeitrag (nationales Gesetz) dagegen erlaubt einer Person mit Beeinträchtigung nicht, Angehörige in direkter Linie (Eltern, Grosseltern, Kinder, Enkel) und (Ehe-)Partner*innen anzustellen. Das neue Gesetz schafft somit Ungleichheiten. So kann beispielsweise ein Bruder oder Cousin über den Assistenzbeitrag angestellt werden und dafür einen Lohn erhalten, aber für zusätzliche Leistungen wird er über das kantonale Gesetz nur entschädigt. «Es ist schwierig zu erklären, dass jemand über den IV-Assistenzbeitrag angestellt werden kann, aber dann weniger verdient, wenn die Leistungen aus dem BLG zum Zug kommen», sagte Simone Leuenberger, Grossrätin EVP und wissenschaftliche Mitarbeiterin Sozialpolitik bei AGILE.CH, an der Ratsdebatte.

Problematisch ist weiter, dass der Regierungsrat durch Verordnung den minimalen und maximalen Leistungsbezug regeln kann. «Das System muss so ausgestaltet werden, dass auch bei hohem Unterstützungsbedarf ein bedarfsgerechter Leistungsbezug sichergestellt ist», fordert die Kantonale Behindertenkonferenz Bern (kbk). Bevor das Gesetz 2024 in Kraft treten kann, kommt es nächstes Jahr für eine zweite Lesung in den Grossen Rat.