Menschen mit einer Beeinträchtigung sollen in der eigenen Meinungsbildung unterstützt werden, anstatt bei Entscheidungen vertreten zu werden. Das fordert die UNO-Behindertenrechtskonvention (UNO-BRK). Wie kann dies in der Praxis funktionieren? Dieser Frage ging Professor Daniel Rosch von der Hochschule Luzern HSLU nach. In seiner Studie skizziert er, wie eine Weiterentwicklung des schweizerischen Erwachsenschutz- und Handlungsfähigkeitsrechts aussehen könnte.
Die Studie versteht die unterstützte Entscheidfindung und die Vertretung als zwei Pole auf einem Spektrum. Bei der Vertretung – zum Beispiel im Rahmen einer umfassenden Beistandschaft – entscheidet der oder die Vertreter*in für die urteilsunfähige Person. Bei der unterstützten Entscheidfindung erhält die hilfsbedürftige Person die benötigte Unterstützung, um selbst zu einem informierten Entscheid zu kommen.
Wille statt Wohl
Die Willens- und die Präferenzen-Zentrierung ist ein zentrales Anliegen von Art. 12 der UNO-BRK. Sie bedeutet, dass die Wünsche, Vorstellungen und Entscheidungen eines Menschen mit Behinderung im Mittelpunkt stehen – und nicht fremdbestimmte Einschätzungen darüber, was «gut» oder «richtig» für sie sei. Die Studie kommt zum Schluss, dass dieses Anliegen im Schweizer Erwachsenenschutzrecht im Grundsatz bereits verankert ist. Um ihm in der Praxis gerecht zu werden, muss jedoch auch bei dauerhaft urteilsunfähigen Personen der mutmassliche Wille eruiert werden. Der oder die Vertreter*in muss also so entscheiden, wie es die Person mutmasslich auch tun würde. Der Autor der Studie erachtet eine solche Vertretung, die willens- und präferenzzentriert ist, als Unterstützung im Sinne der UNO-BRK.

Die Willens- und die Präferenzen-Zentrierung ist ein zentrales Anliegen der UNO-BRK© Cyril Zingaro / insieme Schweiz
Das heutige Erwachsenenschutzrecht spricht jedoch vom Wohl der Person. Folglich kann sich eine Vertreter*in bei einer Entscheidung für die vertretene Person auch am objektiven Wohl, also der objektiv besten Lösung, orientieren. Das stellt eine Verletzung der UNO-BRK dar. Die Studie empfiehlt deshalb einerseits, für eine BRK-konforme Umsetzung des bestehenden Erwachsenenschutzrechts Informationen und Schulungen für Vertretungspersonen anzubieten. Andererseits soll das Erwachsenenschutzrecht revidiert und die Orientierung am mutmasslichen Willen der betroffenen Person klar vorgeschrieben werden.
Unterstütze Entscheidfindung und Schutzvorkehrungen
Um in einem System der unterstützten Entscheidfindung sicherzustellen, dass der mutmassliche Wille der hilfsbedürftigen Person im Prozess so gut wie möglich eruiert werden kann, braucht es Schutzvorkehrungen. Die Studie zeigt, wie nebst dem Erwachsenenschutzrecht auch das Handlungsfähigkeitsrecht überarbeitet werden kann, um dies sicherzustellen.
Die Studie macht deutlich, dass sowohl im Gesetz sowie auch in der Umsetzung Handlungsbedarf besteht. Mit Anpassungen im Gesetz und in der Praxis kann ein System der unterstützen Entscheidfindung entstehen, welches es Menschen mit einer geistigen Behinderung ermöglicht, ein noch selbstbestimmteres Leben zu führen.
Die Studie wurde vom Eidgenössischen Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (EBGB) in Auftrag gegeben. Im ersten Teil der Studie untersuchte Professor Rosch, ob die umfassende Beistandschaft für hilfsbedürftige Personen noch zeitgemäss ist. Er kommt zum Schluss, dass diese Massnahme aufgehoben werden kann (insieme-News vom 20. April 2025. Im zweiten Teil seiner Studie befasste er sich damit, wie weit die in Artikel 12 der UNO-Behindertenrechtskonvention (UNO-BRK) geforderte unterstützte Entscheidfindung in der Schweiz bereits umgesetzt ist und ob es Anpassungen im Gesetz bedarf. Der Ausschuss der UNO-BRK schätzt im Gegensatz zum Autor jegliche Vertretung bei Entscheidungen als einen Verstoss gegen die Konvention ein.