Seit einem Bundesgerichtsurteil von Juli 2010 werden Spitexleistungen von der Invalidenversicherung für Kinder mit einer Behinderung massiv reduziert. Der finanzielle Druck und die persönliche Belastung sind für viele Eltern deshalb enorm gestiegen. Die Behindertenorganisationen Procap Schweiz, insieme Schweiz und die Vereinigung Cerebral Schweiz kritisieren, dass die Umsetzung dieses Gerichtsentscheides gerade stark belastete Eltern mit wenig finanziellem Spielraum besonders hart trifft. Einige müssen sich überlegen, ihre Kinder in ein spezialisiertes Heim zu geben. Es wird offensichtlich, dass die Abgeltung der Pflege von Kindern, welche mit einer schweren Behinderung zur Welt kommen, ungenügend geregelt ist.
Letztes Jahr hatte das Bundesgericht den Fall eines 2007 geborenen Kindes mit einem Hirntumor zu beurteilen. Bei diesem Kind war unter anderem eine Überwachung rund um die Uhr notwendig. Die Eltern übernahmen die ganze Pflege praktisch alleine, beantragten aber wenigstens für zwei Nächte pro Woche eine Überwachung durch die Spitex, um sich zu entlasten.
Das Bundesgericht entschied am 7. Juli 2010 (BGE 136 V 209), die IV müsse lediglich für Behandlungen aufkommen, die nur durch qualifizierte Fachpersonen durchgeführt werden könnten. Demnach muss die IV beispielsweise die Grundpflege nicht finanzieren. Für die Überwachung in der Nacht – so das Bundesgericht – brauche es keine qualifizierte Fachperson. Laien könnten dazu angeleitet werden, was die Eltern ja in 5 von 7 Nächten bewiesen hätten. Da also die Entlastung der Eltern im Vordergrund stehe, müsse die IV die Spitex nicht zahlen. Die Eltern könnten die Entlastung aus der Hilflosenentschädigung und dem Intensivpflegezuschlag finanzieren.
Umsetzung des Urteils schafft verschiedene Probleme
Problematisch an diesem Urteil ist nun, dass die Ansätze der Hilflosenentschädigung und des Intensivpflegezuschlags gerade in schweren Fällen mit intensiver Überwachung und Pflege zu tief sind, um damit eine massgebliche Pflege-Unterstützung voll zu finanzieren. Die Mehrkosten müssen die Eltern aus der eigenen Tasche bezahlen – sofern sie dazu in der Lage sind.
Zudem wird beim Urteil die konkrete Situation der Eltern nicht berücksichtigt. Für die Beurteilung, wie viele Pflegestunden finanziert werden sollen, spielt die Belastung der Eltern nämlich keine Rolle. Im Gegenteil: Je mehr die Eltern selber machen, desto mehr beweisen sie damit, dass sie die Pflege ohne fachliche Hilfe bewältigen. Dies schliesst wiederum eine Unterstützung durch die IV aus.
Spielraum soll ausgenützt werden
Die Behindertenorganisationen begrüssen deshalb, dass das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) als Aufsichtsbehörde der IV dieses Urteil nicht unkommentiert liess. Das BSV hat im Februar ein Rundschreiben mit konkreten Vorgaben für die Beurteilung von Spitex-Gesuchen erlassen (IV-Rundschreiben Nr. 297 vom 1. Februar 2011). Das BSV orientiert sich dabei am Leistungskatalog der Krankenversicherung. Leider wird in dieser Weisung aber auch die Übernahme der Grundpflege abgelehnt. Die Überwachung kann nur in Fällen teilweise übernommen werden, wo mit medizinischen Notfallinterventionen durch diplomiertes Pflegepersonal zu rechnen ist.
Procap Schweiz führt zusammen mit den Nationalräten Thérèse Weber-Gobet und Rudolf Joder sowie betroffenen Spitexorganisationen Gespräche mit dem BSV, um die Entwicklung zu evaluieren. Weitere politische Schritte sind vorbehalten.
Bessere Regelungen sind nötig
Die konkrete Umsetzung des Bundesgerichtsentscheides durch die kantonalen IV-Stellen bringt es aber an den Tag: Die Überwachung und Pflege von schwerbehinderten Kindern durch Angehörige sind generell ungenügend geregelt. Viele Eltern geraten dadurch sowohl kräftemässig als auch finanziell in eine schwierige Situation.
> Procap Schweiz, insieme Schweiz und die Vereinigung Cerebral Schweiz fordern deshalb die kantonalen IV-Stellen auf, bei der Umsetzung des Bundesgerichtsentscheides den vorhanden Spielraum zu Gunsten der betroffenen Eltern und ihrer Kinder auszunützen.
> Der Rechtsdienste von Procap Schweiz und Integration handicap beraten betroffene Eltern. Bereits heute haben deren Anwältinnen und Anwälte in über einem Dutzend Fälle rechtlich interveniert.
> Die Abgeltung der Grundpflege von Kindern mit einer schweren Geburtsbehinderung muss auf Gesetzesebene besser und klarer geregelt werden. Als relativ rasch umsetzbare Lösungen kommen hierfür beispielsweise eine Erhöhung des Intensivpflegezuschlages, die Öffnung des Assistenzbeitrages für Kinder und die Anpassung der rechtlichen Grundlagen der IV an diejenigen der Krankenversicherung in diesem Bereich in Frage. Es ist zudem zu prüfen, ob in Zukunft das Thema Angehörigenpflege als Ganzes umfassend geregelt werden soll.