Ehemaliger Fussball-Internationaler, anerkannter und geschätzter Trainer, kompetenter Kommentator der Fussballweltmeisterschaft und der UEFA Champions League beim Deutschschweizer Fernsehen … Gilbert Gress ist eine wichtige Figur des Weltfussballs. Er ist aber auch Botschafter von insieme im Jubiläumsjahr und des insieme!-Fussball-Cups. Aus seiner Sicht ein logisches Engagement.
Als Sie von insieme Schweiz als Botschafter für das Jubiläumsjahr 2010 und für den Jubiläums-Cup insieme! angefragt wurden, was haben Sie da gedacht? Wie haben Sie darauf reagiert?
Sagen wir so, es hat mich nicht überrascht. Wissen Sie, ich engagiere mich seit mehreren Jahren im Behindertenbereich, für Menschen mit körperlicher oder geistiger Behinderung. So engagiere ich mich für swiss paralympic und habe vor zwölf Jahren das Patronat für ein Fussballteam von SpielerInnen mit geistiger Behinderung in Strengelbach bei Aarau übernommen. Das Team nennt sich FC Traktor azb. Die Spieler arbeiten in einer Einrichtung für Menschen mit geistiger Behinderung.
Vor zwei Jahren konnte die Mannschaft das zweijährige Bestehen feiern. Es war ein wunderbares Fest. Und in diesem Jahr, aus Anlass eines Tages der offenen Tür – und weil in diesem Jahr Weltmeisterschaft ist – habe ich den ehemaligen Fussballer Andy Egli und den Moderator Rainer Maria Salzgeber vom Deutschschweizer Fernsehen eingeladen, an einem Match teilzunehmen, bei dem „Traktor“ gegen ein Journalisten-Team antreten sollte. Wir hatten sehr viele Zuschauer und eine tolle Stimmung.
Wie kam es, dass Sie das Patronat für dieses Fussballteams übernahmen?
Das war, als ich noch die Nationalmannschaft trainierte. Der damalige Trainer von „Traktor“ hatte beim SFV – dem Schweizerischen Fussballverband – angefragt, ob ich einen Tag lang seine Mannschaft trainieren könnte, als Spezialcoach. „Traktor“ bereitete sich in einer Trainingswoche gerade auf ein Auslandturnier vor. Der Sekretär des SFV hat mir die Anfrage weitergeleitet – etwas skeptisch. Aber ich habe sofort gesagt „Stopp, das interessiert mich!“. Ich ging also hin und trainierte sie einen Tag lang. Seither haben wir den Kontakt nie verloren. Ich treffe mich mit ihnen zwei-, dreimal pro Jahr. Mehr, um mit ihnen zusammen zu essen, als sie zu coachen. Jedenfalls haben sie schon zwei Trainer.
Sie sind sich also solche Anfragen gewöhnt?
Ja. Kürzlich, als ich gerade in Zürich war, hat mich jemand angefragt, die Patenschaft für einen Verein zu übernehmen, der sich für Kinder in Afrika einsetzt. Ich musste leider absagen. Es wäre schlicht zuviel gewesen. Wenn man sich engagiert, muss man das seriös tun. Man muss präsent sein, sonst bringt es nichts.
Sie fühlen sich mit Menschen mit geistiger Behinderung sichtlich wohl. Wie kommt das? Hatten Sie bereits früher Kontakt zu Menschen mit geistiger Behinderung ?
Ja, schon in meine Kindheit. Wissen Sie, meine Eltern hatten stets eine offene Tür. Schon als ich zehn, zwölf Jahre alt war, nahmen sie einen Mann mit leichter Behinderung bei sich auf. Er hiess Albert. Er war oft allein, also luden ihn meine Eltern von Zeit zu Zeit zu uns nach Hause ein. Zuerst kam er ein paar Mal zum Kaffee, dann kam er an Weihnachten, danach zu Ostern und dann zu den Geburtstagen… Und dann war er praktisch jede Woche da (lacht). Er gehörte sozusagen zur Familie.
Später, als ich so zwischen 14 und 16 war, kümmerte sich meine Mutter auch um ein Kind mit schwerer Behinderung. Sie hat es jeden Tag gehütet, fast fünf Jahre lang.
Hat Ihnen diese Erfahrung geholfen, Barrieren zu überwinden und sich in Gegenwart von Menschen mit geistiger Behinderung wohl zu fühlen?
Oh ja, das hat mir viel gebracht. Man kann sagen, dass ich eine glückliche Kindheit hatte, mit meinem Fussball und all den Eingeladenen zu Hause (lacht).
Doch so richtig Fuss gefasst habe ich mit der Fussballmannschaft „Traktor“. Denn es ist nicht dasselbe, mit einer Person mit Behinderung umzugehen oder gleich mit zwanzig auf einmal! Sich gut fühlen kann man lernen. Heute habe ich keine Schwierigkeiten mehr damit. Aber ich kann verstehen, dass dies nicht für jeden so ist. Das Wohlgefühl kommt mit der Gewöhnung.
Sie sind Trainer von höheren Ligen… Was macht für Sie den Unterschied aus, eine Mannschaft wie „Traktor“ oder einen Erstliga-Club zu trainieren?
Das ist tatsächlich nicht dasselbe. Es gibt nicht den gleichen Druck. Wohlverstanden, wenn ich am Spielfeldrand „Traktor“ coache, brülle und gestikuliere ich wie immer. Aber es ist nicht mehr für die Galerie… Für die Spieler gibt es keinen Unterschied: Sie laufen und geben alles. Wenn sie das Fussballfeld betreten, wollen sie gewinnen. Sie haben ihren Stolz.
Und aufgepasst: Es hat gute Spieler. Traktor ist schlagkräftig, die Mannschaft spielt gut. Ihre Gegner müssen sich warm anziehen, wenn sie in ihrer Verteidigung nicht dem Durchzug ausgesetzt sein möchten.
Was bringt es Ihnen, ihr Coach zu sein?
Unser Kontakt ist eine Bereicherung – nicht nur für sie, sondern auch für mich. Wenn sie die Blicke spüren, die sie auf sie richten…. Es ist sagenhaft! Gerade in der heutigen Gesellschaft, wo „gesehen werden“ und materielle Werte zählen. Man ist weit weg vom Fussballbusiness und von jenen Stars, die sich fast alles erlauben.
Wenn Sie den Menschen mit geistiger Behinderung etwas für die nächsten 50 Jahre wünschen könnten, was würden Sie ihnen wünschen?
Mein Wunsch wäre, dass wir 100 Jahre insieme zusammen feiern könnten. Doch angesichts meines Alters, dürfte dies etwas schwierig werden… Nein, im Ernst, ich wünsche mir mehr Integration. In der Arbeitswelt, aber nicht nur. Auch im Alltag, auf der Strasse, überall.
Auch wenn sich die Situation verbessert hat, so gibt es noch viel zu tun. Auch heute gibt es noch Menschen, die nicht verstehen und Behinderung nicht akzeptieren. Ich kann verstehen, dass dies nicht immer einfach ist. Doch wie ich schon sagte: Es ist die Kraft der Gewohnheit, die gewisse Barrieren und Ängste überwinden hilft. Hat man diese Schwelle erst einmal geschafft, gibt es das Problem nicht mehr. Deshalb ist es so wichtig, diese „Gewöhnung“ zu favorisieren und Orte der Begegnung zu schaffen!